Das lang ersehnte Abendessen nahte und wir waren nicht nur hungrig, sondern auch neugierig auf unsere Reitgruppe. Die internationaler war, als wir dachten. Schweden, Frankreich, Schweiz und Deutschland waren vertreten, alle nett, puh, Glück gehabt. Bei einem typisch deftigen, leckeren irischen Nachtmahl und einigen Guiness lernten wir uns kennen, teilten unsere Vorfreude und fielen schon früh todmüde ins Bett. Jeder in sein uriges, gemütliches Zimmer. Fast war man versucht, zu rufen: „Gute Nacht John Boy!“
„Es geht lo-ho-s!“ war mein erster Gedanke, als ich am nächsten Morgen gut ausgeschlafen die Augen aufschlug. Mit Schwung sprang ich aus dem Bett und schlug mir den Kopf an der Dachschräge an. Aua, zum Glück aus Holz (die Dachschräge!). Tara lag verdächtig schlapp im Bett. Normalerweise ist meine Freundin Tara ein Speedomat. Das, was ich an diesem Morgen im Bett liegen sah, war das Gegenteil eines Speedomats. „Ich glaub, ich bin krank,“ krächzte es unter der Decke hervor. So ein Mist. Tatsächlich hatte sich Tara eine Erkältung mitgebracht, die sich nun, wie so gerne im Urlaub, wenn endlich Zeit dafür da ist, ihren Weg bahnte. Sofort dröhnte ich sie mit Ibuprofen (was anderes hatten wir nicht) voll, in der Hoffnung, der Erkältung Einhalt zu gebieten.
Nach unserem ersten irischen Frühstück, Rührei, Speck, Pilze, Grilltomaten, Toast und dazu dann noch Cornflakes und noch mehr Toast war auch Tara etwas munterer und unsere Gastgeber bliesen zum Abmarsch. Es war dies unser erster, voller Tag in Irland und wir sollten heute unsere Guides und Pferde kennenlernen und einen längeren Proberitt absolvieren. Einfach zum Eingewöhnen und um zu testen, ob die Pferde passen. Am nächsten Tag sollte dann der eigentliche Wanderritt beginnen, in dessen Verlauf wir insgesamt 180 km auf dem Pferderücken zurücklegen würden und als Endziel die Atlantikküste in Galway County vor Augen hatten.
Wenn sich 14 aufgeregte Reiter gleichzeitig in die Reiterkammer drängen und ihre Reitsachen suchen, dauert das seine Zeit, am Ende standen wir aber alle in Montur auf dem Hof und schauten mit großen Augen unserer Zukunft entgegen. Rasch wurden wir in 2 Gruppen à 7 Reiter eingeteilt, mit jeweils 1 Front- und einem Backguide. In unserem Fall waren dies Marine und Cécile, beides französische Studentinnen, die zum Englischlernen auf der Farm waren. In unserer Gruppe waren die 2 netten Schwedinnen, eine französische Familie mit 17jähriger Tochter und wir zwei beide.
„The horses are in the fields, let´s go there,” verkündete Nikola. So läuft das beim Wanderritt. Die horses sind immer in the fields. Am Morgen holt man sie von der Wiese, reitet sie und am Ende einer Tagesetappe lässt man sie, wo auch immer man übernachtet, wieder auf einer Wiese. Wir legten jeden Tag um die 50 km zurück. Mittags kamen Bertie und Nikola mit dem Lunch und dem Hufschmied angefahren und die ersten 3 Tage holten Sie uns am frühen Abend auch ab und brachten uns über Nacht wieder auf die Farm zurück. Die letzten 3 Tage waren wir dann schon zu weit von der Farm entfernt und schliefen unterwegs in verschiedenen Bed and Breakfasts. Die Pferde leben das ganze Jahr über draußen, ohne Ställe, einfach nur in der saftigen irischen Natur, im Sommer wie im Winter. In unserem Fall blieben die Pferde nach einem vollendeten Wanderritt 1 Woche zum Ausruhen auf der Weide, während ihre Kumpels ranmussten und dann waren sie wieder dran. Auf der Farm gibt es genug Pferde.
„Here are your horses,“ hieß es 10 Minuten später, als wir an der Heimatwiese ankamen. 14 Augenpaare schauten uns aus sicherer Entfernung gelassen entgegen.

„Your horse is Chaddagh ,“(Kadda ausgesprochen) sagte Marine und drückte mir ein Halfter in die Hand. „She is over there. Oh, she is sleeping!“

Chaddagh war in der Tat sleeping, ignorierte mich zu 100% und weigerte sich auch nur ansatzweise, aufzustehen. Erst als alle anderen von der Wiese waren, bemühte sie sich aufzustehen und mir missmutig durch den knöchelhohen Schlamm zu folgen, den ich bereits auf dem Weg zu ihr hin durchquert hatte. „Quoatsch, Quoatsch“ machte es unter meinen Füßen und ihren Hufen. Chaddagh war sichtlich schlecht gelaunt, ließ sich am Baum anbinden, schaute geflissentlich an mir vorbei und als ich versuchte, sie am Kopf zu streicheln, drehte sie ihn ein wenig angewidert weg und fing demonstrativ an, einen Busch abzufressen. Aha. Wir mussten uns wohl aneinander gewöhnen. Ich putzte sie gründlich, trat einen Schritt zurück und betrachtete sie zum ersten Mal richtig. Wow, und ich dachte immer mein Pferd Lola sei stämmig. Gegen Chaddagh ist sie zierlich und elfenhaft. Chaddagh ist ein Mix aus Irish Hunter und Irish Cob. Vom Irish Hunter hat sie die Schnelligkeit und das Temperament (das ich bald schon kennenlernen durfte), vom Irish Cob die Masse, Gutmütigkeit und enorme Trittsicherheit.

„Du hübsche Braune, du,“ säuselte ich ihr zu. Gelangweilter Blick in die andere Richtung. Unsere Guides erklärten uns das aufwändige und für einen Wanderritt unerlässliche Sattelprozedere, die Hufe wurden überprüft und kurze Zeit später der erste Sattelkontakt.

Erste Schritte im Kreis. Wow. Ist die bequem und leichtführig im Maul, stellte ich überrascht fest. Die erste Gruppe war schon aufgebrochen, wir folgten etwa 30 Minuten später nach. So war das immer, und wir trafen jeweils zum Lunch und zum abendlichen Absatteln zusammen. Ich startete an Position 3 hinter Marine, Chaddagh nutzte jedoch die allererste Gelegenheit, das Vorderpferd zu überholen und sicherte sich bis zum Ende des Wanderritts ihre Position gleich hinter dem Leitpferd. Die erste Stunde verbrachte ich staunend. Darüber, wie leichttrittig, wendig, vorwärtsgehend und wach mein auf den ersten Blick eher schwerfällig wirkendes Pferd war. Da hatte ich wohl jemanden falsch eingeschätzt. Fleißig tätschelte ich Chaddagh die ganze Zeit von oben, in der Hoffnung, ihre Gunst zu gewinnen. Fehlanzeige. Mit einigen flotten Trabs und Erläuterungen zum Wanderritt, Land und Leuten, verbrachten wir einen langen, spannenden Vormittag und fielen entsprechend heißhungrig über das Mittagessen, das wir am 1. Tag auf der Farm einnahmen, her.
„In the afternoon, there will be some kanter, ok?” teilte uns Marine mit, als wir nach der Mittagspause aufsattelten. “Wir werden erst lange galoppieren, dann 3 x kurz, es geht zum Teil über Geröll und durch ein Bachbett, aber keine Angst, die Pferde sind das gewohnt, versucht nicht, sie abzubremsen. Ich werde dann das Kommando zum Galopp geben. Ich kann es jetzt nicht sagen, weil die Pferde es kennen und dann sofort losrennen. Ich sage es nur ganz, ganz schnell, dass nur ihr es versteht, ok? Das Kommando heißt: So, are you ready to kanter?” Leichte Verunsicherung machte sich in der Gruppe anlässlich dieser Ankündigung breit. Allerdings nicht sehr lange, denn von vorne ertönte es laut: „Sooooo…“ Mehr war nicht zu hören, denn Marine war samt ihrem temperamentvollen Rappen Paddy weg. Und Chaddagh hinterher. Und die ganze Meute hinterher. Wow, was war das? Sind die Pferde durchgegangen? sauste es durch meinen Kopf. In einem halsbrecherischen Tempo ging es über Stock und Stein, es schien, als würden die Pferde immer schneller werden. Nach den ersten Schrecksekunden realisierte ich, dass das schlicht und einfach das Galopp-Grundtempo war. Und das war wirklich mal schnell. Von da an jagte ich wie ein Pfeil einfach nur noch in diesem Affenzahn hinter Marine her und in meinem Kopf klang es wie ein Mantra: „Mein Gott, wie geil. Wie ober-, ober- obergeil. Lass es nie, nie aufhören.“ Nach jedem Galopp hatte ich das Gefühl, die Fliegen aus meinem Grinsegebiss puhlen zu müssen. Nach dem ersten Galopp warf ich einen vorsichtiger Blick nach hinten, ob Tara noch lebte. Sie lebte. Aber gerade so. Die anderen saßen genauso erstaunt und sichtlich glücklich auf ihren Pferden wie ich.
Am späten Nachmittag sattelte ich stolz und glücklich meine Chaddagh ab und erzählte ihr ausgiebig, was für ein tolles und schnelles Pferd sie sei. Todesverachtung in die andere Richtung.
Am Abend, während wir wie hungrige Raubtiere über Stew und Guiness herfielen, gab es natürlich nur ein Thema: den Galopp. Wir einigten uns darauf, dass er obergeil ist, man das gerne den ganzen Tag machen würde und dass Tara, der es morgen sicher besser gehen würde, es auch obergeil finden würde. In dieser Nacht schlief ich, Frau Oberschlafnicht, wie eine Tote.